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100 Jahre Bauhaus - Architekt Carl Weidemeyer im Tessin

Carl Weidemeyer

Carl Weidemeyer ist vor allem als Architekt des Theaters San Materno in Ascona bekannt, das bis heute in seiner Gesamtheit erhalten geblieben ist, auch dank der 2009 abgeschlossenen vorbildlichen Renovation unter der Leitung des Architekten Guido Tallone, die dem Gebäude all seine wertvollen Details (z.B. seine überraschende innere Polychromie) erhalten hat. Doch Weidemeyer ist auch und vor allem ein vielseitiger und fruchtbarer Künstler: Maler, Bildhauer, Druckgrafiker, Illustrator, Grafiker, Designer von Spielzeug, Möbeln und anderen Gegenständen. Ein reichhaltiges Zeugnis seines Schaffens befindet sich im Museo Comunale d'Arte Moderna in Ascona, das 1995 den Bestand Carl Weidemeyer erwarb, ein umfassendes Korpus von Gemälden, druckgrafischen Werken, Zeichnungen, Skizzen, Plänen, architektonischen Entwürfen und schriftlichen Dokumenten mit insgesamt über 3300 Elementen. 

Die prägendsten Aspekte seines architektonischen und künstlerischen Schaffens wurden im Katalog der Ausstellung, die 2001 vom Museo Comunale d'Arte Moderna Ascona in Zusammenarbeit mit dem Archivio del Moderno der Architekturakademie Mendrisio organisiert wurde, näher untersucht. Es geht hier nicht darum, auf diese Aspekte zurückzukommen, sondern den menschlichen und kreativen Weg von Carl Weidemeyer von seinen Anfängen bis zu den Jahren im Tessin zu verfolgen. Ein Leben, das sich im Laufe der Analyse als vollkommen organisch und nicht künstlich auf zwei Orte (Worpswede und Ascona) aufgeteilt erweist, wie es oft dargestellt wird, und das deshalb in seiner Ganzheit zu betrachten ist. Die Fäden, die Weidemeyer zu Beginn seines Lebens knüpfte, seien es persönliche oder kulturelle Bindungen, verschwinden nie und ergeben ein dichtes Geflecht, das ihn in eine viel umfassendere Debatte integriert, die die kulturelle Erneuerung einer ganzen Epoche vom späten 19. bis in die Dreissigerjahre des 20. Jahrhunderts geprägt haben. Carl Weidemeyer ist in erster Linie mit der deutschen Kultur verbunden, da er sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland ausbildete und die Grundelemente seines Schaffens und Denkens ausprägte. 

Deutschland befand sich in jenen Jahrzehnten in einem tiefgreifenden kulturellen und künstlerischen Wandlungsprozess, der im Übrigen ganz Europa betraf. Das Land stand deshalb im Mittelpunkt einer in jeder Hinsicht internationalen Debatte, die Weidemeyer bewusst war und an der er sich nicht selten beteiligte, auf der Suche nach neuen Wegen und Experimenten zur Stellungnahme auf die Fragen seiner Zeit. Statt eines banalen „touche-à-tout", wie er definiert worden ist, sollte Weidemeyer als ein Mann seiner Zeit gesehen werden, der sich in vollem Bewusstsein bemühte, eine universelle Sprache zu finden, die die Beschränkungen auf Sektoren und Kategorien überwindet, im Einklang mit dem romantischen Ideal des Gesamtkunstwerks, das jedoch durch die Erfahrungen der Avantgarde der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erneuert wurde und deshalb schon grundlegend modern war. 

Das Theater San Materno

1928 vollendete Carl Weidemeyer in Ascona sein erstes Werk, das Theater San Materno für Charlotte Bara. Der Architekt konzipierte nicht nur die Struktur des Gebäudes, das wegen seiner basilikaähnlichen Struktur bereits als „Tanztempel" definiert wurde, sondern auch die Innenräume, von der Einrichtung des Aufführungsraumes (ausgestattet mit Rolltreppen und beweglichen Elementen, um einen vielseitigen Gebrauch zu garantieren) bis hin zu den Möbeln in den Künstlerwohnungen. Weidemeyer folgte damit dem Prinzip der einheitlichen und vollständigen Ausarbeitung des architektonischen Objekts, und das Ergebnis ist ein in jeder Hinsicht kohärentes und harmonisches Ganzes, ein kristalliner Kreativitätsraum, der von einem Architekten und Künstler konzipiert wurde. Die Realisierung des Theaters verschaffte Weidemeyer eine unmittelbare Reaktion und ein äusserst gutes Echo in der Presse. Im Februar 1929 wurde das Theater in der Schweizer Architekturzeitschrift „Das Werk" von Grete Wels präsentiert, auf Anregung des Schweizer Redakteurs und renommierten Architekten Hans Bernoulli, während 193o Fotografien der Theaterinterieurs veröffentlicht wurden. Auch der Architekt Eduard Keller erwähnte das Theater im Artikel „Neue Bauten im Tessin!", der in „Das Ideale Heim" erschien; weitere Publikationen in der Schweiz kamen hinzu. Die Präsentation von Weidemeyers Arbeiten in „Das Werk" verschaffe ihm internationale Kontakte und Publikationen: Ebenfalls 1929 interessierte sich der ungarische Architekt Virgil Bierbauer für das Theater, das er in der von ihm geleiteten Zeitschrift „Tèr ès Forma" publizierte sowie in der ungarischen Kunstzeitschrift „Magyar Muvèszet“. Virgil Bierbauer reiste persönlich nach Ascona, um die Bauten Weidemeyers kennenzulernen und eine dauerhafte Freundschaft mit ihm, die durch Besuche und einen regelmässigen Briefwechsel bestätigt wird. Bierbauer wird dann die Verbreitung von Weidemeyers Werk in Ungarn fortsetzen und seine späteren Bauten in den Jahren 1930 und 1934 veröffentlichen. In Deutschland zeigte unter anderem die bedeutende Zeitschrift „Das Neue Frankfurt" Fotografien des Theaters San Materno, neben anderen Arbeiten von Tanzräumen. In Italien wurden Weidemeyers Werk und insbesondere das Theater erstmals 193o in der Zeitschrift „Architettura e arti decorative" gezeigt', dank dem Interesse des Architekten und Stadtplaners Plinio Marconi, der nach Ascona gereist war, um das Gebäude zu bewundern. 1932 wurde Weidemeyers Werk in der Zeitschrift „Architettura"' von Luigi Vietti, ebenfalls Architekt und Stadtplaner rezensiert, der auch nach Ascona reiste. 

Dank des Theaters San Materno und der unmittelbar darauf folgenden Bauten in Ascona hat sich Carl Weidemeyer in der Welt der modernen Architektur einen Namen gemacht, wie die Einladung zur Teilnahme an der Ausstellung „Modern Architecture. International Exhibition, extent of modern architecture" 1932 im Museum of Art in New York bestätigt. Auf lokaler Ebene gehören Weidemeyers Bauten zu den ersten Beispielen rationalistischer Architektur im Tessin. 

Die Villa Chiara

Am vielleicht schönsten Ort des damals nur spärlich bebauten Ascona liess sich die bekannte Familie Oppenheimer 1934 auf ihrem riesigen Grundstück vom berühmten Architekten Carl Weidemeyer zwei Villen erstellen: die dreistöckige Casa „Benvenuto“ und die Villa „Chiara“, eine aufsehenerregende „moderne“ Bungalow-Villa im Bauhaus-Stil. Heute denkmalgeschützt, wird Villa „Chiara“ von den Familien Oppenheimer und Sonanini bewohnt und gehalten. Die Lage ist atemberaubend wie eh und je, der Park durch die vielen Jahre eher noch schöner geworden. Nun möchten die Familien verkaufen, eine ganz aussergewöhnliche Gelegenheit für Kenner und Sammler.

Wir haben mit der Besitzerin, Frau Sonja Rasmussen-Oppenheimer geredet
Sie sind die Enkelin vom Bauherrn der Villa Chiara. Haben Sie Herrn Carl Weidemeyer noch persönlich kennen gelernt?

„Carl Weidemeyer war ein enger Freund meiner Familie. An meiner Taufe schlug er mit seinen 90 Jahren auf der Wiese vor der Villa Chiara einen Purzelbaum. Als Architekt, Maler und Möbeldesigner gehört ihm mein profunder Respekt. Insbesondere weil ich selber male, schätze ich vor allem sein vielschichtiges, gestalterisches Können und seine enorme Materialkompetenz. Meine Grosseltern erbauten mit ihm die Villa Chiara, die heute in meinem Mitbesitz ist und ich 2017 in Zusammenarbeit mit dem Kantonalen Denkmalschutz in Bellinzona renovieren konnte.“

Ausstellung Carl Weidemeyer 1882-1976 zwischen Moderne & Bauhaus 

2. März - 12. Mai 2019

Anlässlich des 100 Jahre Bauhaus Jubiläums widmet das Museo Castello San Materno einem seiner Vertreter eine Ausstellung, dem deutschen Architekten Carl Weidemeyer, welcher der Gemeinde Ascona das Teatro San Materno hinterlassen hat, einziges verbleibendes Beispiel eines Bauhaus Theaters in der Europa.

Seit 1995 besitzt die Gemeinde Ascona einen wichtigen Bestand an Dokumenten und Werken des Bremer Künstlers und möchte mit dieser Ausstellung seine Tätigkeit als Maler, Zeichner und Architekten würdigen. Im komplexen Übergang zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert wusste Weidemeyer auf originelle Weise den modernen und innovativen Zeitgeist zu verkörpern, in einer Synthese zwischen Naturalismus und Abstraktion.

Mit freundlicher Unterstützung der Fondazione Car Weidemeyer

TV Bericht über Carl Weidemeyer im RSI

https://www.rsi.ch/la1/programmi/informazione/il-quotidiano/Il-Quotidiano-11461505.html

Mehr Infos über die Stiftung

http://de.carlweidemeyer.ch

Fondazione Carl Weidemeyer
Via Collinetta 73
CH-6612 Ascona

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Quelle: Dieser Text ist erstellt aus mehreren Auszügen des Buches „Carl Weidemyer“ in 2018 erschienen und von Veronica Provenzale geschrieben. Herausgeber ist das Museo Communale d’Arte Moderna Ascona und Armando Dadò editore Locarno. ISBN 978-88-8281-507-3